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Auf der Suche nach dem Nicht-Ort

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Das Berliner Kulturforum ist seit Jahrzehnten ein unvollendeter Ort voller Utopiepotential. Mit dem Projekt „Utopie Kulturforum“ haben sich die Anrainer des Kulturforums erstmalig gemeinsam zusammengefunden, um die Geschichte und die Potentiale des Kulturforums sichtbar und für die Zukunft fruchtbar zu machen. Worum es genau geht, erklärt Joachim Brand, stellvertretender Direktor der Kunstbibliothek, im Interview.

Was war oder ist die „Utopie Kulturforum“ und wie hat sie sich im Laufe der Zeit entwickelt?

Das Kulturforum ist ein unvollendeter, offener Ort, der das utopische Denken bis heute inspiriert. Dynamischer Wandel bis zur Zerstörung, Verdrängung und Utopie sind in seiner Vergangenheit untrennbar miteinander verbunden. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Kaiserreich, zwei Demokratien und zwei Diktaturen in nicht einmal 80 Jahren hat hier tiefe Spuren hinterlassen und politisch, ideologisch und gesellschaftlich auf die Architektur- und Sozialgeschichte des ganzen Stadtviertels eingewirkt. Zum Kulturforum existieren zahlreiche Architekturutopien, beginnend im Kaiserreich mit den städtebaulichen Achsenplanungen, über frühe Hochhausentwürfe in der Weimarer Republik bis zu den monströsen Visionen des Nationalsozialismus. Mit dem Hauptstadtwettbewerb 1957 und der demokratischen Aufbruchsutopie im Westberlin der 1960er Jahre begann die Baugeschichte des Kulturforums mit seinen weltberühmten Architekturikonen der Philharmonie und der Neuen Nationalgalerie. Später haben die Postmoderne und diverse Wettbewerbe nach der deutschen Einheit ihre Pläne und Visionen für das Kulturforum entwickelt. Dieser Prozess kommt nun mit dem Neubau für das Museum des 20. Jahrhunderts städtebaulich an ein Ende. Die Frage nach den gesellschaftlichen Utopien, die mit den Architekturen am Kulturforum verbunden waren und sind, bleibt in den aktuellen Diskussionen über die Gestalt eines zukünftigen Kulturforums virulent. Hier knüpft das Projekt „Utopie Kulturforum“ an. Im Rahmen von dezentralen Ausstellungen, Stadtgesprächen, Workshops und Kunstaktionen soll das utopische Potential des Kulturforums gehoben und für die Zukunft fruchtbar gemacht werden.

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Kulturforum 1966 ohne Staatsbibliothek und Neue Nationalgalerie © bpk / Rolf Koehler

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Projekt gekommen?

Die Stiftung St. Matthäus hat 2019/2020 das Projekt „Die verschwundene Stadt. Rekonstruktion des alten Tiergartenviertels“ mit drei Leseabenden in der Matthäikirche veranstaltet. Die positive Resonanz bestärkte den Direktor Hannes Langbein, Ingolf Kern von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und mich als Standortsprecher der Staatlichen Museen am Kulturforum darin, einmal die ganze Geschichte des Kulturforums und der damit verbundenen Utopien in den Blick zu nehmen. Die Institutionen am Kulturforum waren in der Vergangenheit stark auf sich und ihre sehr erfolgreiche Programmarbeit konzentriert. Gemeinsame Aktivitäten und Strukturen gab es nicht. Es ist unser Anliegen, eine regelmäßige Kommunikation zwischen den Anrainern zu etablieren und auch ein emotionales „Wir-Gefühl“ für unser einmaliges Kulturquartier in bester Innenstadtlage zu erzeugen. Es geht auch um die Versöhnung mit dem Standort und um unsere gemeinsame Zukunft am Kulturforum.

Was erwartet die Besucher*innen konkret?

Die Besucher*innen sind eingeladen, das Kulturforum zu durchwandern und dabei zu erkunden. Zur Orientierung und Begleitung wird eine App mit zahlreichen Informationen und Erzählungen zur Verfügung stehen, die die Zeitschichten des historischen Tiergartenviertels an den heutigen Standorten vor Augen führt. Während ihres Rundgangs können die Besucher*innen in der Philharmonie, der Staatsbibliothek, der Neuen Nationalgalerie, der Matthäikirche, der Kunstbibliothek, dem Kunstgewerbemuseum und der Eingangshalle der Museen Station machen und dort kostenfrei die kleineren und größeren Ausstellungen anschauen.

Portrait Joachim Brand
Joachim Brand © Katrin Käding
Historische Luftansicht des Berliner Kulturforums mit Neuer Nationalgalerie
Kulturforum 1967, vorne die Neue Nationalgalerie im Bau © bpk / Rolf Koehler

Wo liegen Themenschwerpunkte der Ausstellungen?

Die Schwerpunkte sind Darstellungen der Institutionen am Kulturforum zur Baugeschichte ihrer Häuser in der Aufbruchsutopie nach dem Zweiten Weltkrieg. Hinzu kommt die individuelle Sicht der Anrainer auf die mittlerweile sechzigjährige gemeinsame Geschichte am Kulturforum, auf seine städtebaulichen Mängel und auf seine Potentiale. In der Ausstellungsstation in der Kunstbibliothek werden darüber hinaus die Geschichte des Tiergartenviertels bis zu seiner Zerstörung im Krieg und in der Nachkriegszeit und die zahlreichen Architektenutopien zur Umgestaltung des Viertels präsentiert.

Was erwartet die Besucher*innen rund um die Ausstellungen?

Zur Begleitung der Ausstellungen sind fünf sogenannte Stadtgespräche geplant. Sie werden – wenn es trotz Corona möglich sein sollte – vor Publikum in den Gebäuden der am Projekt beteiligten Anrainer stattfinden. Die Themen stehen noch nicht endgültig fest. Da das Kulturforum immer für meinungsstarke Diskussionen stand, rechne ich mit intensiven und kontroversen Debatten.

Es sind auch künstlerische Interventionen geplant. Was hat es damit auf sich?

Die künstlerischen Interventionen sollen eine alternative Wahrnehmung der Bauten und Interaktionen der Anrainer anregen. Im Kunstgewerbemuseum wird unter dem Titel „Das Kunstgewerbemuseum – eine gebaute Utopie?“ eine mittels Projektionen bewegte Intervention gezeigt. Ausgehend von der Befragung des Museumsbaus werden Fragen nach Utopie und Materialität in Architektur und Design thematisiert. Die Philharmonie plant ein Konzert in der Neuen Nationalgalerie zur Musik am Bauhaus.

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihr Projekt?

Eine Ausstellung über ein komplexes Thema mit zahlreichen Beteiligten in kurzer Zeit zu realisieren ist schon unter normalen Bedingungen eine große Herausforderung. Corona bringt zusätzliche Unsicherheiten in die Programmplanung hinein, da wir die Situation im Herbst 2021 derzeit nicht einschätzen können. Im Falle einer sehr ungünstigen Entwicklung würden wir die digitalen Komponenten des Projektes, eine Web-Präsentation und insbesondere die App zum Kulturforum weiter ausbauen.


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