Wir wissen von ersten Treibhauseffekten schon im Neolithikum

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Die Fotografin Herlinde Koelbl hat für ihr neues Projekt 60 der weltweit bedeutendsten Naturwissenschaftler porträtiert – und einen Geisteswissenschaftler: Hermann Parzinger

Was macht die Faszination der Wissenschaft aus? Was treibt Forscherinnen und Forscher weltweit an? Die Fotografin Herlinde Koelbl ist für ihr neues Projekt quer über den Globus gereist und hat 60 der weltweit bedeutendsten Naturwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler, darunter zahlreiche Nobelpreisträger auf ganz ungewöhnliche Weise porträtiert. Die Künstlerin bat die Porträtierten die Quintessenz ihrer Forschung auf die Hand zu notieren: eine Formel, eine Philosophie, einen Begriff. So auch den Archäologen Hermann Parzinger, der der einzige Geisteswissenschaftler in diesem Kreis ist. Vor Beginn der Ausstellung "Faszination Wissenschaft. Herlinde Koelbl", die vom 5. Oktober 2020 bis zum 29. Januar 2021 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in der Jägerstraße 22/23 zu sehen sein wird, stellte uns Herlinde Koelbl Foto und Gespräch mit Hermann Parzinger zur Verfügung. Eine wichtige Ausstellung in diesen Zeiten, in denen Ergebnisse der Wissenschaft gern negiert oder verhöhnt werden.

Schwarz-Weiß Porträt eines Mannes, der eine Hand in die Kamera hält, auf der "Stratigrafie" steht
Hermann Parzinger © Herlinde Koelbl

Herr Professor Parzinger, die Naturwissenschaftler versuchen mit ihrer Forschung die Zukunft zu beeinflussen, Sie als Prähistoriker haben die Geschichte der Menschheit erforscht. Beginnt diese mit dem Erscheinen des denkenden Menschen?

In der Tat. Der denkende Mensch tritt zum ersten Mal vor 2,7 Millionen Jahren auf, als Homo habilis in Ostafrika, der sogenannte Geröllgeräte hergestellt hat. Das fiel zusammen mit dem Übergang vom Vegetarier zu Hominiden, die bereits Fleisch verzehrten, vermutlich Aas, das sie in der Natur vorfanden. Da sie das Fleisch aber anders als Raubtiere nicht mit ihrem Kiefer zerteilen konnten, brauchten sie dafür Hilfsmittel, die ersten Geräte. Das Neue daran war, dass sie nicht Gegenstände einsetzten, wie sie in der Natur vorkamen, sondern sie bearbeiteten Gesteinsbrocken so zielgerichtet, dass sie zum Schneiden geeignete Kanten erhielten. Das ist der erste Beleg für problemlösendes Denken, damit begann der Drang des Menschen, sein Leben effektiver und leichter zu gestalten.

Woher kam die Erkenntnisfähigkeit, etwas verändern zu können?

Die Frühmenschen waren sehr genaue Beobachter. Die Beherrschung des Feuers vor 1,5 bis 2 Millionen Jahren war ein weiterer bedeutsamer Schritt in der Entwicklung. Mit Feuer ließ sich Fleisch zubereiten und haltbar machen. Schon sehr früh fanden Treibjagden auf ganze Herden statt. Das setzte Wissen und Planungsvermögen voraus. Es bedurfte einer kenntnisreichen und charismatischen Person, die das Kommando übernahm, und auch einer Form der Kommunikation, also Sprache. Kommunikative Fähigkeiten spielten beim Weitergeben von Wissen eine zentrale Rolle, etwa bei der Herstellung von Jagdwaffen aus bestimmten Gesteinsarten. Auch winzige Gerätschaften wie die aus Knochen gefertigte Nähnadel konnten epochale Wirkung haben. Der Mensch konnte damit nämlich an den Körper besser angepasste, dichtere Kleidung aus Fell nähen und sich dadurch wesentlich besser gegen Kälte schützen. Das hat seine Überlebenschance in Kaltzeiten erheblich verbessert. Der Mensch hat aber auch stets seine Umwelt, besonders Tiere und Pflanzenexakt beobachtet und gewiss viele Versuche unternommen, mit ihnen zu experimentieren, welche Tiere kann man zähmen, welche Pflanzen essen und welche nicht. Das war die Voraussetzung für eine weitere zentrale Weichenstellung in der Menschheitsgeschichte: der Übergang vom aneignenden zum produzierenden Wirtschaften. Statt Jäger, Sammler und Fischer zu sein, haben die Menschen Pflanzen und Tiere domestiziert und die Ernährung damit planbar gemacht. Das führte dann zur Sesshaftigkeit.

    Wie hängt die Erfindung des Rads mit der Sesshaftwerdung zusammen?

    Rad und Wagen sind eine wichtige Innovation des Menschen, als er bereits sesshaft war. Im späten vierten Jahrtausend vor Christus gab es im Nahen Osten und in Teilen Mittel- und Osteuropas schon vierrädrige Wagen für den Warentransport, die vermutlich von Rindern oder Ochsen gezogen wurden. Für das Reitpferd liegen ab dem dritten Jahrtausend erste Belege vor, und von diesem Moment an ließen sich riesige Distanzen in einer bis dahin nicht gekannten Geschwindigkeit überwinden. Der Mensch hat stets sehr schnell verstanden, auf welche Weise die verschiedenen domestizierten Tierarten seine Lebensverhältnisse verbessern konnten.

    Wie hat die Schrift die Entwicklung verändert?

    Die Schrift ist in verschiedenen Weltregionen zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, aber der Prozess, der dazu führte, war immer sehr ähnlich: Städte und komplexe Gesellschaften entstanden und große Bevölkerungsmassen mussten verwaltet werden, ob im Nahen Osten, in China oder  bei den Azteken in Mesoamerika, immer führte dies zur Erfindung der Schrift. Mündliche Tradierung war sehr lange maßgeblich, auch Geschichtsschreibung entstand erst spät. Die ersten Schriftzeugnisse waren Warenverzeichnisse. Hinzu kamen Siegel zur Markierung von Eigentum, das war dem Menschen schon sehr früh wichtig. Wer Dinge als sein Eigentum kennzeichnet, hat auch eine klare Rechtsvorstellung. Früh hat sich auch gezeigt, dass der Besitz etwa von Metall oder die Kontrolle über Ressourcen zu Wohlstand führten.

    Wie hat die Entstehung von Eliten und Macht die Denkweise beeinflusst?

    Als Dörfer immer weiter anwuchsen, entstand Arbeitsteilung: Wenn Hunderte von Menschen zusammenlebten, musste nicht jeder Keramik herstellen oder Webstühle bedienen. Gerade die Metallurgie erforderte ein umfangreiches Wissen und entsprechende Ausrüstung und führte dadurch zwangsläufig zu Spezialisierung. Die Kontrolle über das Metall und seine Verteilung führte dann in der Regel zu sozialer Schichtung. Elitenbildung zeigte sich in Siedlungen durch hervorgehobene Häuser, vor allem aber durch reiche Grabausstattungen. In Schrift führenden Zivilisationen wurde dann auch die politische Herrschaft oft in den Händen einzelner Familien verankert und Dynastien konnten entstehen.

    Hat mit dem Wohlstand auch das abstrakte Denken seinen Anfang genommen, dass sich in Höhlenmalerei oder in Musik ausgedrückt hat?

    Die Kunst mit Bildhauerei, Malerei und auch Musik setzte schon mit dem frühesten Homo sapiens in Europa ein. Wunderbare Höhlenmalereien gab es bereits vor über 30.000 Jahren, die ersten Elfenbein-Schnitzereien reichen bis zu 20.000 Jahre zurück, ebenso erste Flöten aus Tierknochen. Und es wurden nicht nur Tiere und die berühmten weiblichen Venus-Figuren hergestellt, sondern auch Mischwesen aus Mensch und Tier, wie etwa der Löwenmensch von der Schwäbischen Alb, was bereits auf ein enorm hohes Abstraktionsvermögen hinweist.

    Herlinde Koelbl ist eine deutsche Fotografin und Dokumentarfilmerin. Unter anderem fotografierte und interviewte sie in einer Langzeitstudie bekannte deutsche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft.

    Website der Fotografin und Künstlerin

    Gibt es etwas, das den Menschen grundsätzlich antreibt?

    Der Mensch gab sich nie mit dem Erreichten zufrieden, sondern war getrieben vom Drang zu stetiger Optimierung des Lebens. So reichten Steingeräte irgendwann nicht mehr aus, und die Metallurgie eröffnete neue Möglichkeiten. War das älteste Metall Kupfer nicht mehr hart genug, da lernte man, Kupfer mit Zinn oder Arsen zu legieren und erfand ein noch härteres Metall, nämlich die Bronze, später kam man auf das Eisen. Dieser Drang zur Optimierung betraf nicht nur die Technik, sondern alle Lebensbereiche, auch soziale Institutionen. Andere tiefgreifende Weiterentwicklungen des Menschen gingen hingegen auf radikale Umbrüche und Katastrophen zurück, etwa Klimaveränderungen, die ihn schlicht vor Herausforderungen stellten, die er bewältigen musste, wenn er überleben wollte.

    Wie weit haben Änderungen in der Naturbeschaffenheit die Entwicklung der Menschheit vorangebracht?

    Teile der eurasischen Steppe etwa waren im zweiten Jahrtausend vor Christus kaum besiedelt, weil die Gebiete fast wüstenartig und damit äußerst lebensfeindlich waren. Im neunten Jahrhundert vor Christus wurde das Klima aber kühler und feuchter, und es entstand eine sehr nährstoffreiche Bewuchsdecke, ideal für Viehzüchter. Das war der Moment, in dem sich das Reiternomadentum entwickelt hat, eine neue Wirtschafts- und Lebensformen mit vielfältigen Veränderungen auch in Kunst, Religion, Waffentechnik und Totenritual, die sich von Südsibirien bis in die ungarische Tiefebene verbreitet haben.

    Es gab in der Vergangenheit einen stetigen Fortschritt, wie würden Sie den definieren?

    Die Entwicklung der Menschheit von der Steinzeit bis in die Eisenzeit war insofern eine Fortschrittsgeschichte, weil es darum ging, sich immer stärker von den Begrenzungen durch die Natur zu lösen und das Leben selbst zu bestimmen. Dazu bedurfte es eines immerwährenden Beobachtens, Experimentierens und Versuchens, und dabei gab es gewiss auch viele Fehlschläge, Rückschritte und unkontrollierbare Kollateralschäden. Die Denkweise war geprägt vom Drang nach Optimierung des Lebens, doch die Suche nach den richtigen Wegen dazu ist nicht mit heutiger methodengeleiteter Forschung zu vergleichen. Auf vieles stieß man eher zufällig, ohne sich die Ursachen dafür wirklich erklären zu können. Das unterscheidet problemlösendes Denken der Frühzeit von der Forschung der Neuzeit, wenngleich es immer Parallelen gibt.

    Gibt es Parallelen zwischen den revolutionären Entwicklungen der frühen Menschheitsgeschichte und denen der Neuzeit?

    Natürlich. Die Erfindung der Schrift war entscheidend, um überhaupt Dinge aufzeichnen zu können, und der Buchdruck hat es dann ermöglicht, Texte beliebig zu vervielfältigen und zu verbreiten. Die Erfindung der Elektrizität hatte ähnliche Auswirkungen wie die Beherrschung des Feuers, weil beide Licht und Wärme produzieren. Das Reitpferd revolutionierte die Mobilität des Menschen wie erst das Automobil wieder. Die Industrialisierung wäre nicht vorstellbar ohne die Arbeitsteilung der Frühzeit, in der sich erste Handwerkszweige herausgebildet hatten.

    Etwas wie die Kernenergie, mit dem sich die Menschheit selbst zerstören kann, gab es früher aber nicht.

    Nein, aber es gab schon sehr früh durchaus weitgehende Umweltschäden. Wir wissen von ersten Treibhauseffekten schon im Neolithikum direkt nach der Sesshaftwerdung und von gesundheitsgefährdender Schwermetallbelastung in der Umgebung metallverarbeitender Zentren. Nur erreichte all das natürlich nicht die Dimensionen der Gegenwart.

    Was ist Ihre Botschaft an die Welt?

    Wir sollten uns immer der zeitlichen Tiefe unseres Seins und Tuns bewusst sein und uns in Demut üben. Fortschritt und Erkenntnis bauen seit Jahrtausenden aufeinander auf, wie im Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen. Ohne Vergangenheit keine Zukunft.


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