Der Preuße am Topkapi-Palast

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Heinrich Friedrich von Diez war Orientalist, Diplomat und Büchernarr. Seine Sammlung gehört zu den kostbarsten Schätzen der Staatsbibliothek zu Berlin – und ist für die Forschung von großem Wert.

Friedrich II. war von seiner imposanten Erscheinung offenbar beeindruckt. Diez sei groß, adrett und eloquent gewesen, ein junger Wilder, zudem ein Aufklärer mit Lust an der Polemik, der sich für Philosophie, Pressefreiheit und Frauenrechte interessierte, erklärt Christoph Rauch, der Leiter der Orientabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Und Rauch muss es wissen, er hütet Diez‘ größten Schatz: viele hundert orientalische Handschriften, türkische, arabische und persische.

Gemälde eines Mannes

Er muss ein wahrer Tausendsassa gewesen sein, zumal einer, der von sich und seinem Genie ziemlich überzeugt war: Als sich Heinrich Friedrich von Diez 1784 bei Friedrich dem Großen darum bewarb, preußischer Geschäftsträger in Konstantinopel zu werden, da muss er auf seinem Posten in der Verwaltung der Provinzmetropole Magdeburg ziemlich unterfordert gewesen sein. Allerdings sprach er kein Französisch. Zum Glück war der alte König krank, die Audienz musste um drei Wochen verschoben werden. So konnte sich Diez noch schnell mit der Sprache der Diplomaten vertraut machen – und bekam den Job.

Porträt von Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) (unbekannter Maler, nach 1790). © SBB-PK, Fotostelle

Diez war nämlich auch ein leidenschaftlicher Sammler. Seine Bibliothek, mehr als 17.000 Bücher, hinterließ er dem preußischen Staat. Heute ist sie in der Staatsbibliothek zu Berlin komplett aufgestellt, nichts wurde aussortiert – sogar Bücher über Volksmedizin sind darunter. Für die Forschung ist das eine große Chance. „Die Bibliothek Diez ermöglicht uns nicht nur einen Einblick in ein bestimmtes Gebiet, sondern in eine ganze Epoche. Sie gibt Auskunft über die Mentalität in jener Zeit und über Diez‘ Persönlichkeit“, sagt Rauch.

Mehrere gestapelte Bücher
Einige Bücher aus der Bibliothek Diez, die kleinen Titelschilder am Buchschnitt wurden von Diez selbst beschriftet. © SBB-PK, Fotostelle
Mehrere gestapelte Bücher
Karte von Istanbul aus dem 17. Jahrhundert. Aus einem Küstenatlas, den Diez aus dem Topkapi-Palast erwarb. © SBB-PK, Fotostelle
Ein historisches Dokument
Diez’ eigenhändige Abschrift einer türkischen Volkserzählung, dem „Buch von Dede Korkut“. © SBB-PK, Fotostelle

Wer ihm zuhört, dem wird schnell klar: An der Staatsbibliothek zu Berlin und ihrer großen Orientabteilung wird Literatur nicht nur erworben, betreut und inzwischen natürlich auch digitalisiert. Rauch und seine Kolleginnen und Kollegen setzen sich auch intensiv mit der Sammlungsgeschichte auseinander. Sie wollen wissen: Wie sind die Handschriften nach Berlin gekommen? Wann und wo wurden sie von wem für wieviel Geld gekauft? Und vor allem: Warum? So eröffnet die sammlungsbezogene Forschung neue Perspektiven. „Wir können neue Impulse in die Wissenschaft geben“, sagt Rauch.

Das gilt auch für die anderen Sammlungen der Staatsbibliothek, aber vor allem für die Sammlung Diez. Denn Heinrich Friedrich von Diez war eine schillernde Persönlichkeit. Sechs Jahre residierte er in Konstantinopel im „Brandenburgischen Palais“, einem repräsentativen Gebäude in der heutigen Istiklal Caddesi, der Hauptstraße des Stadtteils Pera, von rund dreißig Bediensteten umgeben, zur ersten Audienz beim Großwezir in Gold gekleidet, später gar von einer Leibwache aus Janitscharen beschützt – bis Berlin ihn abberief, da er, kurz gesagt, die Türken zu sehr und die benachbarten Russen zu wenig schätzte, und so das Gleichgewicht der Mächte ins Wanken geriet. Es waren arbeitsreiche Jahre, die er dazu nutzte, um sich ausgiebig mit der osmanischen Kultur zu beschäftigen, um Türkisch zu lernen und „um durch den unmittelbaren Umgang mit den Türken ... und durch das Lesen ihrer Bücher dieses Volkes eigentliche Sitten, Grundsätze, Empfindungen, Gedanken, Kenntnisse und Tugenden und Laster kennenzulernen“, wie er 1791 in einem Brief schrieb.

Diez kam – wohl durch das Ausstellen der begehrten preußischen Pässe und Handelsbriefe – zu einem stattlichen Vermögen und finanzierte so den Ankauf seiner Bücher und Handschriften, darunter kostbare Preziosen. Dabei war er geschickt: Als während des Machtwechsels zu Sultan Selim III. 1789 im Topkapi-Palast auch das Haremspersonal ausgetauscht wurde, gelang es ihm, dort Alben mit 450 Miniaturen, Zeichnungen und Kalligraphien zu erwerben – heute eine der bedeutendsten Sammlungen persisch-mongolischer Bildkunst. Nach seiner Abberufung aus Konstantinopel wurde er zum Privatgelehrten. Die Originalquellen übersetzte und edierte er mit dem klaren Ziel, den Europäern die orientalische Kultur näherzubringen.

Diez wurde zu einem bedeutenden Kenner des Orients, mit einem bedeutenden Einfluss auf das geistige Leben seiner Zeit. Dabei ging es ihm nicht so sehr um die islamische Religion, sondern eher um Politik und Recht, um Ethik und Kultur, bis hin zur Tulpenzucht. Wert legte er darauf, dass er sein Wissen nicht nur aus den Büchern hatte, sondern auch aus der Erfahrung und persönlichem Erleben. So wurde Diez zu einem namhaften Orientalisten, der später sogar in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde – eine ungewöhnliche Ehre für einen wie ihn, einen Autodidakten, der eben nicht zum akademischen Establishment gehörte und der darum von vielen Fachleuten seiner Zeit nicht geachtet wurde.

Tagungsband über Heinrich Friedrich von Diez

Vielleicht wäre er in Vergessenheit geraten, wäre Goethe nicht gewesen: Für den Weimarer Dichterfürsten war Diez eine wichtige Inspirationsquelle. In seiner Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ erwähnt er ihn ausdrücklich. Und nennt ihn einen „unschätzbaren Manne, dem ich so viel Belehrung schuldig geworden“. Als Zeichen seiner Dankbarkeit widmete er Diez sogar ein Gedicht.

Lange Zeit seien die zahlreichen Quellen zu Leben und Wirken dieses außergewöhnlichen Wissenschaftlers wenig beachtet worden, sagt Christoph Rauch von der Staatsbibliothek zu Berlin. Dabei könnten Gelehrte wie Diez, die nicht in den institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb eingebunden waren, einen wichtigen Beitrag leisten zum Verständnis des Orientbildes jener Zeit. Doch jetzt kommt die Diez-Forschung voran: Zunächst gab es in Berlin eine internationale Konferenz zu den herrlichen Alben aus dem Sultanspalast, kürzlich widmeten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen dann erstmals Diez‘ Leben und seinen vielfältigen Interessen. Beide Tagungen wurden großzügig von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert.
 
Über die letzte ist nun ein Band erschienen. Zu den neuen Erkenntnissen gehört, die verschiedenen Phasen im Leben von Diez nicht als Brüche, sondern als Entwicklungsprozess zu sehen: Diez, der junge Freidenker, dann Diez, der Diplomat und Orientkenner, und später Diez, der tiefgläubige Christ. Um noch mehr zu erfahren, will Rauch mit Arne Klawitter, Professor für deutsche Literatur in Tokio, die zahlreichen Briefe des schreibwütigen Gelehrten vollständig herausgeben. Die Arbeit sei manchmal mühsam, sagt Rauch. Diez hatte eine schlecht lesbare Handschrift. Wer hätte das bei einem so eigensinnigen Denker anders erwartet?


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