Das Atlantis des Iraks – auf der Suche nach Al-Hīra

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Mit einem internationalen Team ist Martina Müller-Wiener im Irak auf der Suche nach einer verschwundenen Stadt aus spätantiker und frühislamischer Zeit.

Am Rande des fruchtbaren Schwemmlands des Euphrat liegen im südlichen Zentral-Irak Nadschaf und Kufa. Südlich der beiden Städte bestimmen Palmenhaine und Felder das Bild – und genau hier vermuten Archäolog*innen die arabische Kulturmetropole Al-Hīra. In spätantiker und frühislamischer Zeit (4. –  8. Jh. n. Chr.) war sie ein kulturelles Zentrum und Sitz lokaler Dynastien mit prächtigen Palästen, bewohnt und besungen von berühmten Dichter*innen ihrer Zeit. Der Ort und der „Glanz von Hīra“ ist im Irak bis heute im kulturellen Gedächtnis verankert, auch wenn die Stadt mittlerweile unter der Erde verschwunden ist, erzählt Martina Müller-Wiener, stellvertretende Direktorin des Museums für Islamische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin. „Man könnte also vom Atlantis des Iraks sprechen,“ sagt die Archäologin, „aus Texten von arabischen Autor*innen wissen wir zwar ungefähr wo Al-Hīra liegt, konkrete Überreste haben wir allerdings noch nicht.“

Mehrere Menschen in einer Wüste vor einer Stadtsilhouette
Besprechung des Surveyteams während der Arbeit © M. Gussone, 2017
Gruppenaufnahme
Das Surveyteam 2016. © M. Gussone, 2016
Ein Geomagnetikgerät an einem Auto in einer Wüste, davor mehrere Menschen
Mit einem speziell konstruierten Messfahrzeug des Projektpartners Eastern Atlas wird die geomagnetische Prospektion durchgeführt. © M. Müller-Wiener, 2016
Sandboden mit Markierungen
Nach mehrtägigen Regenfällen im Frühjahr 2018 zeichneten sich durch Feuchtemerkmale auf der Oberfläche darunter liegende Mauerzüge ab. Sie wurden mit Nägeln und Schnüren abgesteckt und eingemessen. © M. Gussone, 2018
Mehrere Menschen sitzen im Schatten eines Baumes
Mittagspause im Feld während des Surveys. © M. Gussone, 2017

Von 2015 bis 2018 leitete Müller-Wiener zusammen mit ihren Projektpartnern, der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) sowie der Technischen Universität Berlin (TU) eine archäologische Oberflächenbegehung, einen sogenannten Survey, im Gebiet südöstlich von Nadschaf und Kufa. Systematisch wurde dabei nach Überresten von der Bebauung Al-Hīras sowie Keramik gesucht – letztere gibt einen Aufschluss über den Zeithorizont, in den die Architektur einzuordnen ist. Bei der Erforschung der spätantiken und frühislamischen Stadt werden heute vor allem die florierenden angrenzenden Städte Nadschaf und Kufa zu einer immer größer werdenden Herausforderung. Nadschaf ist neben Kerbela die zweigrößte Pilgerstadt im Irak, die vor allem schiitische Pilger*innen aus dem Iran anzieht. Der flächenmäßige Ausbau der beiden Orte bedroht zunehmend das Gebiet des historischen Al-Hīra. „Die Bautätigkeit ist dort wenig reguliert, deshalb versuchen wir, unsere Partner*innen vor Ort in ihren Bestrebungen zu unterstützen, archäologische Schutzzonen einzurichten, um das, was vom historischen Erbe noch vorhanden ist, zu schützen,“ erläutert Müller-Wiener.

„Es ist leider nicht immer selbstverständlich, dass denkmalpflegerische Belange gleich mitgedacht werden. Wie überall stehen auch hier wirtschaftliche Interessen der Erhaltung gegenüber. Die Frage ist dann immer, wer die bessere Verhandlungsposition und Unterstützer*innen hat.“ In der Vergangenheit ist dies schon einmal gelungen: „Als der Bau einer zweiten Landebahn des Al Najaf International Airport auf dem Gebiet des historischen Al-Hīra geplant war, haben wir uns zusammen mit unseren irakischen Kolleg*innen dafür eingesetzt, dass vor Baubeginn die nötigen Voruntersuchungen stattfanden.“

Mit den Kooperationspartner*innen hat Müller-Wiener ein Konzept für die sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfung erstellt und die Untersuchungen vor Ort durchgeführt. „Das war ein sehr besonderes Arbeiten,“ erzählt die Archäologin, „zwischen den Starts und Landungen des angrenzenden Flughafens haben wir nach archäologischen Überresten der historischen Stadt gesucht, auch mit Hilfe der technischen Geräte unserer Projektpartner Eastern Atlas, die uns einen geophysikalischen Blick unter die Erde ermöglichten. So konnten wir Strukturen erkennen, die unter der Oberfläche verborgen waren und zeigen, dass in diesem Bereich ursprünglich eine durchgehende Bebauung vorhanden war.“

Die Funde, die die Archäolog*innen von 2015 bis 2018 sichern konnten, führten allerdings zu einem Problem in der chronologischen Einordnung, erzählt Müller-Wiener: „Alle Daten, die wir daraus ziehen konnten, datieren später als das, was wir für das Al-Hīra, das wir suchen, erwarten würden. Die entdeckten Funde stammt aus einer Phase, die eher in das 8. Jahrhundert geht, wir waren aber auf der Suche nach dem 5. Jahrhundert, also 300 Jahre früher.“

Kooperationspartner*innen

Der Survey war erst die erste Phase im großen Vorhaben, Al-Hīra näher zu erforschen. „Das ist die übliche Vorgehensweise bei einem solchen Projekt: Man verschafft sich erstmal einen Überblick über eine große Fläche und schaut, welche Plätze geeignet sind, um dort Ausgrabungen durchzuführen und näher ins Detail zu gehen,“ erläutert Müller-Wiener. Der nächste Schritt ist dann die Grabungskampagne, die aus fünf Teilprojekten besteht. Dafür hat Müller-Wiener zusammen mit Margarete van Ess vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) und Martin Gussone von der Technischen Universität Berlin (TU) einen Förderantrag zum Folgeprojekt mit dem Titel „Das spätantike und frühislamische Hira – Urbanistische Transformationsprozesse in einer transregionalen Kontaktzone“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestellt, der 2020 bewilligt wurde.

Die Grabungskampagne sollte im Herbst 2020 stattfinden, leider machte die Corona-Pandemie diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. „Der Irak ist ohnehin kein einfaches Gebiet zum Arbeiten,“ berichtet Müller-Wiener, „wir sind hier sehr eingeschränkt, vor allem durch Sicherheitsbeschränkungen – die Corona-Pandemie machte das natürlich nicht einfacher.“

Eines der fünf Teilprojekte kann dennoch bereits im Frühjahr 2021 starten: Eine Doktorandin der TU Berlin und Universität Leiden entwickelt aktuell ein innovatives technisches Verfahren, was mit künstlicher Intelligenz arbeitet und die von 2015 bis 2018 gesammelten Prospektionsdaten auf Basis von Algorithmen auswertet. „Früher erfolgte diese Auswertung händisch. Daraus ergibt sich aber ein subjektives Bild, weshalb es schon seit Längerem Versuche gibt, diesen Prozess zu objektivieren, zu beschleunigen und zu optimieren,“ erklärt Müller-Wiener, „eine selbstlernende KI gibt uns die Möglichkeit, das noch einmal auf andere Füße zu stellen.“

Das große Ziel aller Bestrebungen ist es, mehr Anhaltspunkte zur Einordnung der Funde zu erhalten und damit mit der Chronologie von Al- Hīra weiterzukommen. „Wir möchten damit einen grundlegenden Beitrag zur Frage des frühislamischen Urbanismus leisten, da der Irak in dieser Zeit der Ort war, an dem die meisten Stadtneugründungen stattfanden. Lange war hier kriegsbedingt keine Forschungsarbeit möglich, obwohl das Gebiet vor allem viel zur Frage der frühen Stadtentwicklung beitragen kann. Ich denke, dass wir mit unserer Arbeit wirklich einen substantiellen Beitrag zur Grundlagenforschung leisten werden.“

Beteiligt an dieser zentralen Forschungsarbeit ist ein Team aus internationalen Wissenschaftler*innen, unter anderem die Bauforscher*innen Martin Gussone, Catharine Hof und Ibrahim Salman, sowie Forscher*innen vom irakischen State Board of Antiquities and Heritage (SBAH). „Um im Irak arbeiten zu können, muss man eine Lizenz beantragen. Lokale Kolleg*innen stehen einem zur Seite, mit denen man zusammenarbeitet und gemeinsam die Ergebnisse veröffentlicht. Auch die Beteiligung von Margarete van Ess ist ein großes Plus: Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren im Irak und ist dort gut vernetzt.“ Man könnte meinen, dass ein so diverses Team durchaus auch Komplikationen mit sich bringt, aber Müller-Wiener widerspricht: „Ich empfinde die verschiedenen Perspektiven als sehr belebend und bereichernd. In unserer Branche sind Kooperationen dieser Art durchaus üblich und wir haben eingespielte Abläufe und Projektschritte.“

Die Archäologin hofft, dass sie mit ihren Kolleg*innen im Herbst 2021 dann endlich vor Ort sein und mit den Ausgrabungen beginnen kann: „Darauf freue ich mich schon sehr – dort zu stehen und unter blauem Himmel anzufangen zu graben.“


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