Aufstrebende Altbauten

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An Berlins Zentrumsplanung scheiden sich die Geister. Die einen begrüßen das Neue, die anderen hängen am Glanz des Alten. Zwei Zwischenrufe

Pro Rekonstruktion: Petra Kahlfeldt

Wie alle Stadtkerne mitteleuropäischer Großstädte ist auch die Berliner Mitte stets weitergebaut und den sich verändernden Zeitbedürfnissen angepasst worden. Geschwindigkeit und Maßstab dieser Modernisierung beschleunigten sich ab etwa 1850 fortlaufend bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Mit dem Stadtkörper von 1910 war ein kompakter und ohne Zweifel gegenwartstauglicher urbaner Zustand erreicht, der Berlin noch heute zur Zierde gereichen würde.

Paradoxerweise träumten die Berliner Stadtplaner und Politiker ab dieser Zeit jedoch von einer weitgehenden Überformung der ihnen verhassten gewachsenen Stadt und ihrer bewährten Struktur und wünschten sich zur Überwindung des Überkommenen eine beispiellose Modernisierung. Durchgesetzt wurden diese autoritären und stadtvernichtenden Planungen bekanntlich erst zwei Jahrzehnte nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs – und dies, politisch motiviert, wesentlich radikaler als in den meisten anderen auch vom Krieg gezeichneten europäischen Städten. Dem historischen Stadtgrundriss und der darin eingelagerten Geschichte weinte keiner eine Träne nach, vielmehr wurde darin die einmalige Gelegenheit gesehen, die Stadt nach modernen Erfordernissen neu zu errichten.

 

Petra Kahlfeldt

Die 1960 geborene Architektin arbeitet selbstständig im Architekturbüro Kahlfeldt Architekten. Seit 2004 ist sie Professorin für Historische Baukonstruktionen, Denkmalpflege und Entwurf in Hamburg. Sie ist Mitglied der Planungsgruppe Stadtkern, einem Zusammenschluss von Experten, der sich für die Reurbanisierung der Berliner Mitte engagiert.

Petra Kahlfeldt © Susanne Tessa Müller

Wir fordern: eine Renaissance der Stadtmitte!

Zeugnisse der Vergangenheit in Mitte: Nicolaiviertel und Plattenbauten unter dem Fernsehturm © Max Zerrahn
2019 wird die Rekonstruktion fertig sein: das Berliner Schloss © Max Zerrahn
Architektur des 21. Jahrhunderts in Mitte: Haus Bastian © Max Zerrahn
Matthias Sauerbruch © Inge Zimmermann
Matthias Sauerbruch
Im Jahr 1989 gründete der 1955 in Konstanz geborene Architekt zusammen mit Louisa Hutton das Büro Sauerbruch Hutton. Matthias Sauerbruch hatte zahlreiche Lehrstühle inne – u. a. in Stuttgart, Harvard und Berlin. Er ist u. a. Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Welche Rolle soll die Stadtmitte in einer nachhaltigen, weit ausgreifenden Großstadtregion spielen? Die Stadtmitte repräsentiert deren Einzigartigkeit, deren reiche, widersprüchliche Baugeschichte, sie überwindet die Lasten des autoritären und autogerechten „modernen“ Städtebaus, sie bietet Räume und Bauten zur Identifikation für alle Berliner und deren Gäste, gleich welcher sozialen und ethnischen Herkunft, gleich welcher religiösen und geschlechtlichen Orientierung. Sie setzt als stimmiges Ensemble bauliche Zeichen für die symbolische, funktionale und gestalterische Form einer Stadtmitte von morgen. Berlin mit seiner besonderen Geschichte ist wie keine andere europäische Großstadt gefordert und geeignet, all diese Herausforderungen zu meistern.

Berlin hätte durch die Wiederbebauung der historischen Mitte die Gelegenheit, seine Vergangenheit neu zu bedenken – einschließlich der in der Öffentlichkeit nahezu vollständig vergessenen 500 Jahre vor dem Dreißigjährigen Krieg. Das Projekt einer historischen Vergewisserung durch den Wiederaufbau der historischen Mitte ist kein Vergangenheitsprojekt, sondern ein Zukunftsprojekt, ein Projekt der Darstellung Berlins als Stadt der Toleranz und Nachhaltigkeit. Dazu gehören Orte und Institutionen, die dieser Darstellung dienen, dazu gehört aber auch ein städtebauliches Programm, in das diese Orte und Institutionen eingebettet sind.

Kontra Rekonstruktion: Matthias Sauerbruch

Wollte man aus der Perspektive der Stadt nach Argumenten suchen, das Areal am Ostufer der Spree zwischen Nicolaiviertel, „DomAquaree“ und Spandauer Straße unbedingt bebauen zu müssen, kommen einem (mal abgesehen von kaufmännischen Überlegungen) nur zwei Argumente in den Sinn: Erstens, der Drang, die Leere dieses zentralen Ortes mit einem schönen Stadtquartier zu füllen und zweitens, das Bedürfnis, die Geschichte dieses Ortes angemessen zu würdigen. 

Beiden Wünschen ist m.E. mit einer Rekonstruktion eines (annähernd) historischen Zustandes vor den Kriegen nicht gedient. Denn mit einer Neubebauung an den Zustand zu Ende des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, würde die Geschichte des 20. Jahrhunderts bewusst ignorieren. Das wäre weniger eine respektvolle Würdigung als vielmehr eine Unterschlagung der Geschichte, nämlich des kontroversesten Teils der Biographie unserer Stadt, der ihren heutigen Zustand so wesentlich geprägt hat.

Mit einer Neubebauung an den Zustand zu Ende des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, würde die Geschichte des 20. Jahrhunderts bewusst ignorieren

Dann käme aber zweifelsohne das zusätzliche Argument, dass die kleinteilige, historische Bebauung aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit ihrem Fassadenschmuck, den Erkern und Giebeln doch so viel schöner sei, als die Plattenbauten der DDR-Zeit oder die gesichtslosen Bürokästen der Gegenwart. Hier mag man unterschiedlicher Meinung sein, sollte sich aber fairerweise die Frage stellen, was denn eine schöne Stadt eigentlich ist, und vor allem, wie man diese neu herstellen kann. 

Will man sich der Analogie mit Menschen bedienen, so kennen wir eine kanonische Vorstellung von Schönheit, mit der wir tagtäglich in endloser Wiederholung bombardiert werden: ebenmäßige jugendliche Körper, strahlendes Lächeln, blonde Haare, blaue Augen… Dann gibt es aber auch noch eine andere Schönheit zu entdecken, die der Kinder beispielsweise, deren Anmut ganz aus der unbewussten Übereinstimmung des Äußeren mit einem inneren Ausdruck zu entstehen scheint, die jeder Kategorisierung widersteht. 

Zurückübertragen auf die Stadt, suchen wir also nicht nach dem hundertsten Wiederaufguss der gängigen Klischees einer gemütlichen europäischen Stadt, welche uns die Bewusstseins-Industrie immer wieder als Bühne des schnellen Glücks empfiehlt, sondern nach authentischen Orten, die vielleicht zunächst neu und unbequem sind, letztlich für Bewohner wie Besucher jedoch nachhaltig attraktiver sein werden. Dies gilt insbesondere für Berlin, eine Stadt, deren eigenwilliges Idyll lange in den desolaten Resten einer zerstörten Großstadtmaschine zu finden war und die heute nach einem eigenen, originellen und zeitgenössischen Ausdruck für ihre neue Existenz zwischen Start-up Szene, Touristenmeile, Spaßlandschaft, Hochkultur und staatlicher Repräsentation noch sucht. 

Wenn überhaupt, war Berlin die Metropole des 20. Jahrhunderts in all seinen Facetten.

Wie peinlich war denn neulich der Empfang des französischen Präsident Macron auf der Baustelle des Humboldtforums. Wer immer sich diesen faux-pas überlegt hat, wollte wahrscheinlich dem Gast demonstrieren, dass Berlin jetzt auch bald ein Schloss haben wird!  Die Stadt (und der Staat) hat sich unnötig blamiert und M. Macron wurde in eine Situation versetzt, die ihn ganz offensichtlich peinlich berührte, brachte sie doch das Missverhältnis der historischen Baukultur der beiden europäischen Kapitalen auf die Titelseiten, das schon den preußischen Kurfürsten und Königen größtes Missvergnügen bereitete und das Macron taktvollerweise selbst sicher nicht zur Sprache gebracht hätte. Berlin wird nicht – wie Paris –als bedeutende europäische Metropole des 18. und 19. Jahrhunderts durchgehen, auch wenn wir noch so viel wieder aufbauen. Wenn überhaupt, war Berlin die Metropole des 20. Jahrhunderts in all seinen Facetten. 

Heute leben wir aber im 21. Jahrhundert und Berlin wäre gut beraten, die offensichtliche Dynamik seines erneuten Wachstums zu nutzen, um im Konzert der europäischen Baukultur an den Wegen in eine nachhaltige Zukunft zu arbeiten. Dafür würde sich die Berliner Mitte eignen. 

Bevor es jedoch keine besseren Ideen als die Rekonstruktion des historischen Zustandes gibt, sollte man lieber die Leere gestalten und aus diesen Grundstücken einen wunderbar unbeschwerten Park machen, in dem die Figuren von Marx und Engels ebenso selbstverständlich ihre Heimat finden wie der Neptunbrunnen auf der anderen Seite der Spandauer Straße.